Veröffentlicht am: | 02.09.2015 |
Veröffentlicht von: | Johannes Seiler Rheinische Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn |
Kategorie: | Forschungsprojekte Kooperationen |
Der „Large Hadron Collider“ in Genf ist nicht irgendein Teilchenbeschleuniger: An der 26,7 Kilometer langen Anlage wurde 2012 nach langer Suche das Higgs-Boson nachgewiesen, das geheimnisvolle Teilchen, das allen anderen ihre Masse verleiht. Physiker der Universität Bonn sind bei den Untersuchungen ganz vorne dabei: Sie waren maßgeblich am Bau des Pixeldetektors des ATLAS-Experiments beteiligt – er sieht die in den Kollisionen erzeugten Teilchen als erster, ganz nahe an ihrem Entstehungsort. Für vier neue Projekte (teils an ATLAS, teils auf verwandtem Gebiet) haben sechs Arbeitsgruppen des Physikalischen Instituts jetzt 8,6 Millionen Euro Fördergelder eingeworben.
Lang ist’s her, dass die Menschheit glaubte, alle Materie bestehe aus „unteilbaren Teilchen“ (Atomen). Heute weiß sie: Atome sind teilbar, und ihre Teile auch. Heutige Physik erklärt die Welt mit dem „Standardmodell“: Es erfasst drei Grundkräfte und 17 Elementarteilchen – sechs „Quarks“, sechs „Leptonen“ und vier „Bosonen“, dazu das geheimnisvolle „Higgs-Teilchen“. Das schwerste dieser Teilchen (das „Top-Quark“) wiegt 200 Milliarden Mal so viel wie das leichteste, das „Neutrino“– ein Verhältnis wie zwischen Zuckerkörnchen und Lokomotive.
Solche Modelle existieren zunächst als mathematische Hypothese; ob sie stimmen, untersucht die Forschergemeinde unter anderem mit dem Large Hadron Collider (LHC) in Genf, dem derzeit leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger der Welt. Physiker der Universität Bonn sind ganz vorne mit dabei: Sie waren maßgeblich an der Entwicklung von ATLAS beteiligt, einem der vier Teilchen-„Detektoren“ des LHC. Diese Anlage (46 Meter lang, 25 Meter Durchmesser, 7.000 Tonnen schwer) registriert die Signale, die entstehen, wenn Teilchen nach ihrer Reise durch den Beschleuniger mit enormer Energie aufeinandertreffen. Für diese Suche nach den innersten Zusammenhängen des Universums fließen jetzt neue Fördergelder des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) nach Bonn: Sechs Arbeitsgruppen am Physikalischen Institut (geleitet von den Professoren Ian C. Brock, Klaus Desch, Jochen Dingfelder, Manuel Drees, Herbert Dreiner und Norbert Wermes) erhalten für die nächsten drei Jahre 8,6 Millionen Euro. Das Geld verteilt sich auf vier Projekte, teils am ATLAS-Detektor, teils auf verwandtem Gebiet.
Auf der Suche nach neuen Teilchen
Das erste Bonner Vorhaben befasst sich mit dem vor drei Jahren am LHC entdeckten Higgs-Teilchen: Im Frühjahr wurde der Beschleuniger dazu mit fast verdoppelter Energie wieder hochgefahren. Die Forscher wollen feststellen, ob die Voraussagen des „Standardmodells“ darüber zutreffen, wie das Higgs-Teilchen sich bei näherer Betrachtung verhält. „Es ist durchaus denkbar, dass es der Schlüssel zu neuen grundlegenden Phänomenen im Mikrokosmos ist“, erläutert Prof. Dr. Klaus Desch. „Beispielsweise könnte es Aufschlüsse über die vorhandene große Asymmetrie zwischen Materie und Antimaterie im Universum geben. Mit der höheren Energie besteht auch die Chance, nach neuen Elementarteilchen zu suchen, die sich in den Daten verstecken könnten.“ Außerdem wollen die Experten das schwerste aller Elementarteilchen untersuchen, das Top-Quark.
Mit der Arbeit am Higgs-Boson ist der LHC aber noch lange nicht am Ende. Zu Anfang des kommenden Jahrzehnts soll er aufs Neue modernisiert werden und dann mit zehnfach größerer Intensität arbeiten. Hier setzt das zweite Bonner Vorhaben an, wie Prof. Desch erklärt: „Um mit dieser dann noch größeren Kollisionsrate zurechtzukommen, muss der ATLAS-Detektor wesentlich verbessert werden.“ Die Physiker arbeiten deshalb an einer völlig neuen Version des Detektors. Bis einschließlich 2018 wollen sie die neuen Technologien entwickeln und erproben, die es dazu braucht. Für die Physik an ATLAS sind auch präzise theoretische Vorhersagen nötig: Hier tragen die Theoretiker Prof. Dr. Herbert Dreiner und Prof. Dr. Manuel Drees zu den Entwicklungen vor allem mit Berechnungen zur „Supersymmetrie“ bei.
Ein Detektor für die „B-Physik“
Das dritte Projekt wird nicht Teil des LHC, sondern des „Belle-II-Experiments“ am japanischen Zentrum für Teilchenphysik (KEK) in Tsukuba bei Tokio: Es soll 2016 beginnen, arbeitet laut Prof. Desch „bei 1000 mal kleineren Energien als am LHC, dafür aber bei noch höheren Strahlintensitäten“ und erzeugt B-Mesonen, die Bottom-Quarks enthalten. Beides ermöglicht „Rückschlüsse auf neue physikalische Phänomene bei sehr hohen Energien“, erläutert Prof. Desch, und auch für dieses Experiment (das Fachgebiet heißt „B-Physik“) wollen die Wissenschaftler der Universität Bonn den Pixeldetektor konstruieren.
Das vierte Projekt ist ebenfalls in Japan geplant, und zwar am „International Linear Collider“ (ILC): Dieser Beschleuniger soll als internationales Projekt in der Präfektur Iwate errichtet werden. Für ihn arbeiten die Physiker der Bonner Universität laut Prof. Desch „an ganz neuen Detektoren zur präzisen Vermessung der elektrisch geladenen Teilchen, die bei den Kollisionen entstehen. Das ist zwar noch Zukunftsmusik, aber wenn der ILC kommt, werden wir auf jeden Fall dabei sein.“
Kontakt für die Medien:
Prof. Dr. Klaus Desch
Physikalisches Institut
Tel.: 0228/73-3236
E-Mail: desch@physik.uni-bonn.de